2022

4. Juli 2022, Wien: Während von der Ringstraße noch die „Wir sind das Volk“-Rufe der täglichen Demonstration und die dazugehörigen üblichen bürgerkriegsähnlichen Kampfhandlungen zu hören sind, ist am Horizont ein unbekanntes Licht zu sehen, heller als hell, und während die geblendeten Augen immer noch nur weiße Blitze vor schwärzestem Schwarz sehen, erreicht uns die Druckwelle der Atombombe und fegt die inneren Bezirke in einem einzigen unheimlichen Streich dahin.

*Schallplattenscratchgeräusch* Wie kamen wir hierher, fragen Sie sich? Nun, alles begann an einem ganz gewöhnlichen Montag im Dezember 2021. Noch scheint die Welt in Ordnung. Bis Billie Eilish, ein britischer Popstar (so etwas wie Adele oder Chris Martin für die U60er), in einem Radiointerview zur Bewerbung ihres neuen Albums erklärt, dass sie der Ansicht sei, ihr persönlich habe zu viel Pornokonsum in zu jungen Jahren geschadet. Sofort trendet daraufhin auf Twitter der Hashtag #vulvagate, weil Eilish in diesem Interview wörtlich gesagt hat, dass die Vaginen sämtlicher Darsteller*innen der von ihr konsumierten pornographischen Filme einander ähnelten, während sie doch korrekterweise sagen hätte müssen, die Vulven der Darsteller*innen hätten sich geähnelt, wie unter diesem Hashtag mit teilweise drastischen Formulierungen diskutiert wurde (Erklärung: Das von Eilish gemeinte Organ wird, anders als in der englischen Umgangssprache üblich, in der Fachsprache eben nicht als „Vagina“, sondern als „Vulva“ bezeichnet). Ab hier führte, gelinde gesagt, eins zum anderen.

7. Jänner 2022: Die deutsche Sängerin Lena-Meyer Landshut postet (ob in Unkenntnis von #vulvagate oder als Solidaritätsgeste mit ihrer britischen Kollegin, beibt unklar) in einer Instastory einen Screenshot von einem Tweet, der Eilish für ihr Radiointerview lobt. Der dementsprechende Aufschrei im deutschsprachigen Twitter ist groß, erste Forderungen nach dem freiwilligen Rücktritt und sonstiger Aberkennung des Songcontest-Siegs werden laut.

8. Jänner 2022: Der Regisseur Luca Guadagnino kündet für das nächstjährige Emile-Ardolino-Doppel-Jubiläum ein Remake von dessen zwei besten weltlichen Filmen unter dem Arbeitstitel: „Three Dirty Men Dancing“ an, was später noch von entscheidender Bedeutung sein wird.

14. Jänner 2022: Die Sendeverantwortlichen des ZDF haben ein Einsehen und behandeln nach mehrmaliger Aufforderung #vulvagate zur besten Sendezeit: Bei Markus Lanz diskutieren Richard David-Precht, Robert Pfaller und Svenja Flaßpöhler mit der feministischen Pornowissenschafterin Madita Oeming, die Pornos wissenschaftlich und sexpositiv mit Wissenschaft untersucht, zum Thema „Pornos – Teufelszeug oder Balsam für Leib und Seele?“. Die Moderation übernimmt Thomas Gottschalk in full Blackface, denn auch bei so ernsten Themen darf der Spaß nicht zu kurz kommen. Als Showact performt Lisa Eckhart einen Poetry Slam, in dem es darüber geht, dass die Juden uns die Frauen wegnehmen.

15. Jänner 2022: Alice Schwarzer schreibt in der Zeit, dass nur und ausschließlich Frauen eine Vulva haben seit ihrer Geburt und nur wer eine Vulva hat seit ihrer Geburt ist eine Frau, so hat das der christliche Herrgott im Himmel nämlich entschieden.

16. Jänner 2022: Der Twitterstar Johannes Franzen erwähnt die Lanz-Sendung in seinem Email-Newsletter nach einer langen Einleitung, in der er schreibt, warum er eigentlich nicht gern über Lanz-Sendungen schreibt und auch jetzt nur einmal ausnahmsweise, nämlich, weil die ohnehin schon so viel Aufmerksamkeit bekommen. Ab jetzt geht alles ganz schnell.

17. Jänner 2022: Weil die Sendeverantwortlichen nach der Lektüre des Newsletters es eingesehen haben, machen sie noch einmal die selbe Sendung um sich dafür zu entschuldigen, dass die erste nicht gut genug war. Zu Beginn sagt Thomas Gottschalk, dass sie für die jüngeren Zuseher vielleicht erklären sollten, wer Lener-Maja Landshut eigentlich ist. Es sind aber leider alle Anwesenden zu heterosexuell um zu erklären, was ein Songcontest ist. Darauf sagt Oeming, dass die Zoomer das als Digital Natives schon selbst am Second Screen recherchieren könnten, wenn sie sich nur eine Sekunde von ihren Memes losreißen könnten. Darauf sagt Precht: „Die Jungen haben Email, Chat und Co im Griff, genau das ist ja das Problem“. Pfaller sagt: „Genau, die Philosophie muss wieder aus dem Elfenbeinturm, warum ist die Philosophie nicht auf TikTok?“ Darauf sagt Oeming: „Naja.“

19. Jänner 2022: Ulf „Poschi“ Poschardt eilt seinem damit so scharf angegriffenen Buddy Pflaller zu Hilfe und schreibt in einem Leitartikel für die WELT, dass die Hexe Ömig Pfaller komplett ungerechtfertigt angegriffen hat und bald überhaupt niemand mehr sagen darf, dass wir die Jugend auf TikTok erreichen müssen, das ist diese Cancel Culture.

20. Jänner 2022: Bini Adamczak schreibt einen sehr langen, sehr ausführlich und präzise recherchierten, durchdachten, schlauen und Hoffnung gebenden Essay über queere Sexarbeiter*innen in der Pariser Kommune, der in einem linken Blog veröffentlicht und von niemand gelesen wird.

21. Jänner 2022: Bots in einer russischen Trollfabrik suchen das Gif raus, in dem Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray im Jahr 2008 in der österreichischen TV-Sendung „Willkommen Österreich“ Poschi ein Glas Wasser ins Gesicht leert, und posten es als Beleg für die Gefährlichkeit der Cancel Culture. #vulvagate hat den österreichischen Planeten erreicht.

22. Jänner 2022: Der österreichische Twitteraccount @mauszfabrick twittert unter dem Hashtag #aufgew.: Lady Gaga sagt in einem Interview, dass sie sich für die Vorbereitung ihrer Rolle im Film „House of Gucci“ so sehr angewöhnt habe, mit italienischen Akzent zu sprechen, dass sie jetzt nicht mehr akzentfrei sprechen könne und mit italienischen Akzent klinge das Wort „vulva“ sehr ähnlich wie „vagina“. Gaga wörtlich weiter: And there can be 100 people in the room, but all it takes is one person who understands „vagina“ instead of „vulva“… Dieser Tweet wird nullmal gefavt, nullmal retweetet und bleibt auch sonst ohne jede Auswirkung.

22. Jänner 2022: Florian Klenk (für unsere internationalen Leser*innen: so etwas wie der österreichische Poschardt) twittert, dass es aber sehr wohl stimme, dass die Jugend erreicht werden müsse auf TikTok. Der österreichische Nachrichtensprecher Armin Wolf retweetet das.

27. März 2022: Weil so schnell dann auch wieder nix passiert und schon gar nicht in Österreich, hat der östereichische Bundeskanzler Gernot Karner angesicht von #vulvagate die Strategie „aussitzen“ gewählt und ist damit bis jetzt ganz gut gefahren, doch aus Gründen, die außerhalb Östereichs niemand versteht und interessiert, wird an diesem Tag Franz Hörl der 37. österreichische Bundeskanzler des Jahres 2022. Weil Wolf wie Hörl Tiroler ist, denkt sich Franz Hörl: „Do muaß i wos mochn.“

28. März 2022: Mit dem Stimmen der beiden Regierungsparteien MFG und ÖVP wird ein Gesetz verabschiedet, demzufolge sämtliche Stadttheater und Literaturhäuser auf TikTok sein müssen, um die Jugend zu erreichen, oder ihnen werden die Fördergelder komplett gestrichen.

30. Mai 2022: Die Umsetzung des so genannten #vulvagate-Gesetzes gestaltet sich in der Praxis schwierig, weil datenschutzrechtliche Gründe dagegen sprechen. Die IG Kultur wird dazu noch das Gespräch mit dem Ministerium suchen.

1. Juni 2022: Diedrich Diederichsen schreibt in „Texte zur Kunst“ in einem Nebensatz einer Fußnote, dass Österreich #vulvagate komplett missverstanden habe, es gehe dabei nämlich eigentlich gar nicht um TikTok, sondern darum, dass nicht Vagina sagen soll, wer Vulva meint.

2. Juni 2022: Es kommt zur Regierungsumbildung in Österreich, Franz Hörl ist jetzt Bundeskanzler und Vulvaminister in Personalunion und befiehlt per Notfallverordnung, dass in sämtlichen schul- und anderen Büchern das Wort „Vagina“ durch „Vulva“ ersetzt werden muss und alle alten Bücher verbrannt werden.

30. Juni 2022: Es regt sich Widerstand gegen den Vulva-Erlass, doch da sich die Identitären lang nicht mit der FPÖ einigen konnten, wer die Demo anmeldet, findet erst an diesem Tag die erste „Demonstration gegen die Vulva-Diktatur“ statt.

1. Juli 2022: Auf dem Blog wir-raten-ab.com erscheint ein Text über den kommenden Guadagnino-FIlm, in dem vermutet wird, dass dieser Film pornographischen Inhalts sein wird, und in diesem Text fällt das Wort „Vagina“.

3. Juli 2022: Dieser Affront ist die Schlagzeile sämtlicher österreichischen Tageszeitungen.

4. Juli 2022: POTUS Joe Biden wird wie jeden Tag eine internationale Presseschau vorgelesen. Biden ist aber heute etwas abgelenkt, weil er nebenbei Fotos von Stormy Daniels googlet, die er benötigt um die anstehende Wiederwahl vom Donald Trump zu verhindern, und so verhört er sich (wie er später in einem Interview mit einem britischen Radiosender bekannt geben wird) und hört „USA, Danger from Australia“ anstatt „#vulvagate in Austria“. Weil er mit der rechten Hand seinen deutschen Schäferhund namens „Commander“ krault, gibt Biden versehentlich „Austria“ statt „Australia“ in die Eingabemaske seiner App namens ReallyEasyNuclearStrike.com ein. Der Rest ist, wie sie so schön sagen, Geschichte. Aber sie erleben? Wir raten ab!